The Art of Conducting - Part 01
Was Führungskräfte von Künstlern lernen können
TEIL 1: Unpopuläre Entscheidungen
Willkommen in meiner Welt
Vorhang auf: Zu sehen ist ein schön ausgeleuchtetes, opulentes Bühnenbild auf einer großen Theaterbühne. Darauf eine Ansammlung von Menschen. Schauspieler und Sänger in Kostümen, ein zwölfköpfiger Chor aus allen Herren Länder, eine Band mit vier Mitgliedern und ihrem Instrumentarium, dazu Bühnentechniker, ein Tontechniker, der Inspizient, der für den reibungslosen Ablauf der Probe zu sorgen hat, bzw. zu sorgen hätte und dazu noch drei/vier weitere Mitarbeiter, deren Funktion nicht ganz klar ist. Hektik, Chaos, enervierende Stimmen, Gebrüll. Die Bühnentechnik hat ein Problem. Irgendetwas klappt nicht. Der Tontechniker brüllt den obersten Bühnentechniker an, das Problem endlich zu lösen. Wertvolle Bühnenzeit ginge verloren. Der Tontechniker hat nicht unrecht. Der Bühnentechniker brüllt zurück. Er mache, was er könne. Und das, so schnell er könne. Aber es würde eben noch ein wenig dauern. Der Tontechniker zieht genervt von dannen. Ein Teil des Chors ist schon längst in Garderobe oder Kantine. Die anderen haben schon ihre Handys in der Hand. Dasselbe machen die Sänger und die Schauspieler. Die Band verhält sich nicht anders und verlässt auch das Geschehen. Die Bühne wird nur scheinbar leerer, da statt der Bühnenakteure jetzt immer mehr andere Theatermenschen die Bühne entern. Noch mehr Techniker, noch mehr Bühnenarbeiter. Jeder weiß Bescheid, wie man das Problem zu lösen hätte. Die Betonung liegt dabei auf dem Konjunktiv.
Von der Muse geküsst werden - ein schönes Märchen!
Einer, der wenigen, der weiterhin aufmerksam das hektische Treiben auf der Bühne beobachtet, ist der Sänger, Gitarrist und Leader der Band. Er hat für das besagte Musiktheater eigens dreizehn Lieder komponiert, getextet und diese Songs mit seiner Band, den Sängern und dem Chor erprobt. Er blickt auf die Uhr. Die Probe ist von 10:00 bis 14:00 angesetzt. Und keine Sekunde länger. Die hauseigenen Sänger und die Chorstimmen sind allesamt erfahrene Profis, aber leider auch Beamte. Sie würden den Teufel tun und keine einzige Sekunde länger proben als vertraglich und gewerkschaftlich vereinbart. Außerdem ist nach vier Stunden Proben eine darauf folgende Ruhezeit von ebenfalls vier Stunden gesetzlich vorgesehen. Der Bandleader, der schon viele Male am Theater gearbeitet hat, weiß darum (er fragt sich zwar, warum jemand nach vier Stunden Arbeit vier Stunden rasten muss, hat dies aber einfach zur Kenntnis zu nehmen).
Der Bandleader legt sein Instrument zur Seite und geht in die Bühnenmitte. Er bittet lautstark um Ruhe. Keine Reaktion. Also noch einmal und noch ein wenig lauter. Alle drehen sich zu ihm. Er teilt den Technikern mit, dass er für exakt zehn Minuten auf einen Kaffee in die Kantine ginge. Wenn das Problem bis dahin noch immer nicht gelöst wäre, dann würde einfach ohne die Möglichkeiten der Bühne weitergeprobt werden. Und fertig. Das kommt nicht gut an. Einige Bühnenarbeiter maulen. Der Musiker hätte ihnen gar nichts zu sagen und so weiter. Der Bandleader sieht das naturgemäß anders. Seine Führungsqualitäten sind jetzt gefragt, mehr denn je. Er muss Entscheidungen treffen und er hat sich entschieden. Wortlos verlässt er die Bühne.
Aus dem Chaos zur Ordnung
Genau zehn Minuten später erscheint der Musiker wieder. Das Problem ist immer noch nicht gelöst, also lässt er den Inspizienten über die Tonanlage, die man im ganzen Theater hören kann, alle Mitwirkenden auf die Bühne rufen. Die Probe ginge weiter. Es dauert circa weitere zehn Minuten bis alle wieder vor Ort sind. Der Bandleader bittet erneut um Ruhe und erklärt der versammelten Mannschaft, dass jetzt geprobt wird, ob die Bühne nun mitspiele oder nicht, und dass es bis 14:00 keine Verzögerungen und keine Pausen mehr geben würde. Alle gehen auf Position, nicht jeder erfreut. Der Schlagzeuger gibt den Takt vor und das erste Lied erklingt. Der Sänger verpasst seinen Einsatz. Der Bandleader bricht das Lied ab. Nochmals alles und alle von vorne. Diesmal sitzt der Einsatz des Sängers, dafür ist der Chor offensichtlich nicht in Laune. Grausam, was da zu hören ist. Der Bandleader bricht erneut ab. Er fordert den Chor freundlich, aber bestimmt auf, sich zu konzentrieren und sich der Musik hinzugeben, und erklärt ihnen ein weiteres Mal, dass sie ein Teil eines großen Ganzen wären - wie jeder, der hier mitmacht- und dass das große Ganze nur dann funktioniert, wenn alle Teile davon ihr Bestes geben und jeder Teil sich auf den anderen verlassen kann. Ansonsten könnte man die Probe gleich sein lassen.
Am liebsten würde er aber sagen, dass der ganze Chor gegen künstliche Intelligenz, in dem Fall Roboterstimmen, ausgetauscht wird. Macht er natürlich nicht. Sänger und Schauspieler sind meist sehr sensibel, um es mal vorsichtig auszudrücken. Man darf sie auf keinen Fall gegen sich aufbringen. Damit wäre das Spiel zu Ende. Das weiß der Bandleader.
Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit (Karl Valentin)
Zu Ende ist jetzt auch die Probe. Punkt 14:00 verlassen die Sänger und der Chor die Bühne. Der Bandleader unterhält sich mit den anderen in der Band. Man ist sich einig, dass einige Dinge nicht funktionieren, wie gewünscht, und dass man eigentlich noch viel mehr Probezeit haben müsste… Das Gespräch dauert eine Stunde. Ein rasches Essen. Dann eine Unterhaltung mit dem Regisseur. Was ist bei der Abendprobe von 18:00 - 22:00 zu tun, welche Aufgaben wären noch zu lösen, wo hapert es immer noch, was muss noch getan werden? Und so weiter. Entscheidungen müssen getroffen werden! Von 16:00 - 17:00 ist auch für den Bandleader „Pause“. Er setzt sich ins Freie und sinniert über seine Lieder, über den Chor, die Sänger. Er sucht nach neuen, anderen Wegen, wieder Esprit und Leidenschaft in die Produktion zu bekommen. So wird das nix. Da ist er sich sicher. Um 17:00 geht‘s für ihn mit detaillierten Gesprächen mit dem Tontechniker weiter. Der Klang von Band und Sängern/Chor ist noch nicht optimal. Daran werden die Band und der Tontechniker später in einer extra Nachtschicht noch arbeiten. Um 18:00 beginnt für alle die Abendprobe. Der Bandleader spricht noch einmal zu allen und vermittelt ein weiteres Mal, worum es ihm bei den Liedern und seinen Kompositionen ginge, was dabei wichtig wäre und was nicht. Erneut appelliert er an jeden einzelnen der Mitwirkenden sämtliche Eitelkeiten über Bord zu werfen und sich dem Kollektiv unterzuordnen. Nur so, und nur so, könnte das ganze Unterfangen am Ende gut und damit auch erfolgreich sein.
Dann lässt er die Probe starten. Siehe da, jetzt funktioniert einiges schon weit besser als noch zu Mittag. Also wird ohne viele Unterbrechungen ein Lied nach dem anderen geprobt. Im Akkord.
Gegen 21:00 ist dann ein allgemeiner Energieabfall zu spüren. Die Band ist schon etwas kraftlos, ebenso die Sänger, die Schauspieler, einfach alle. Dem Bandleader entgeht dies nicht. Er bricht die Probe früher ab und verlautbart, dass alle nach Hause gehen könnten. Die nächsten Tage, die drei letzten vor der Premiere, würden anstrengend genug werden. Die meisten danken es ihm und sind sofort verschwunden. Für den Bandleader, die Band und den Tontechniker aber beginnt die Nacht erst. Einen Tag zuvor hat sich der Bandleader von der Intendanz des Theaters die Erlaubnis für eine Nachtprobe geholt. Gegen den Willen der Betriebsleitung. Sehr ungewöhnlich an solchen Theatern, wo meist nach der Stechuhr gearbeitet wird. Der Tontechniker ist wunderbar und arbeitet mit der Band noch konsequent bis 2:00 in der Früh. Bei einem Bier wird dann noch besprochen, was durch die Nachtsession verbessert wurde. Dann geht‘s endlich nach Hause. Der Bandleader schläft kaum. Ein paar Dinge lassen ihm keine Ruhe. Es braucht noch eine wichtige Änderung!
Wenn es nicht gut ist, dann ist es nicht das Ende
Am nächsten Tag, dem drittletzten Tag vor der Premiere, ruft er den Regisseur gleich um 8:00 in der Früh an. Es sei zwar nur noch wahnsinnig wenig Zeit, aber nichtsdestotrotz würde er gerne ein Lied rausschmeißen und stattdessen noch ein Neues schreiben und mit allen anderen dann einstudieren wollen. Der Regisseur ist zuerst sehr skeptisch, aber eigentlich vertraut er dem Bandleader zu einhundert Prozent. Er solle tun, was er für richtig hält. Um 10:00 stellt sich der Bandleader vor die versammelte Mannschaft und unterrichtet diese von seinem Plan. Die Reaktionen sind unterschiedlich. Sie reichen von Gelächter über Kopfschütteln bis hin zum blanken Entsetzen. So kurz vor einer Premiere bitte, bitte keine großen Änderungen mehr, ist der einheitliche Tenor. Und vor allem nichts Neues mehr. Man müsste eine neues Lied ja auch noch proben und so weiter . Der Bandleader beteuert, dass er sich seiner Sache sehr sicher sei. Ja, es werden für alle Beteiligten noch einige Extrakilometer zu gehen sein, diese würden sich aber auf jeden Fall auszahlen. So richtig glauben will ihm keiner. Der Bandleader dreht sich um und verlässt das Theater. Er wird ein neues Lied schreiben. Dafür hat er nur wenige Stunden Zeit. Am Abend muss er das Lied allen präsentieren. So ist die Abmachung mit dem Regisseur.
It’s better to burn out than to fade away (Neil Young)
Der Bandleader war in dem Fall ich. Bis zur Premiere bekam ich so gut wie keinen Schlaf mehr. Aber da ich meine Arbeit liebe - egal wie anstrengend sie zum Teil auch ist - zahlt sich jede Minute des wachen Arbeitens aus. Für mich und somit auch für das ganze Team. Die Premiere wurde dann ein großer Erfolg. Alle weiteren Aufführungen waren ausverkauft. Ich hatte bei meinem Vorhaben ein mögliches Scheitern zwar im Hinterkopf, aber auch folgende Zeile des Musikers Neil Young vor meinen Augen: It’s better to burn out than to fade away! Oder mit anderen Worten: es ist besser zu scheitern, als sich mit 95% seiner Möglichkeiten zufrieden zu geben!
Wir sind nicht auf der Welt, um uns mit Mittelmaß zufriedenzugeben. Wir sind auf der Welt, um über uns hinauszuwachsen, um aus dem Leben wunderbare Kunst zu machen, um andere zu begeistern und sie mitzunehmen auf abenteuerliche Reisen. Und vor allem sind wir dazu da, uns selbst, jeden Menschen mit all seinen Möglichkeiten, zu feiern und zu umarmen! Oftmals bedarf es dazu divergenten Denkens, unpopulärer Entscheidungen und eines enormen Kraftakts. In der Kunst, wie in der Wirtschaft! More to come.
Stay foolish and be creative,
Oliver Welter