The Art of Conducting - Part 2

Was Führungskräfte von Künstlern lernen können
TEIL 2: Was die Kunst der Wirtschaft voraus hat

Die Unmöglichkeit einer Definition

Was ist eigentlich Kunst? Diese Frage hat sich jeder von uns in seinem Leben mindestens  einmal schon gestellt. Beim Betrachten eines abstrakten Bildes in einer der großen Galerien dieser Welt vielleicht, beim Hören von verstörender Musik, die aus den Boxen des Autos dröhnt, weil im Radio grad der Kultur-Kanal eingestellt ist, oder gegenteilig,wenn man etwa einen Tischler beobachten darf, wie er mit seinen Händen einen Stuhl von größter Schönheit fertigt. In diesen und in vielen anderen Situationen fragen wir uns, was es denn nun eigentlich wirklich mit der Kunst auf sich hat, oder einfacher, was denn nun eigentlich Kunst sei. Und womöglich, weil dem Menschen die Neugier eigen ist, befragen wir deshalb das Internet oder schlagen in der 24 bändigen Enzyklopädie nach, die in unserem Bücherregal verstaubt, bloß um dann zu erfahren, dass es Dutzende von Versuchen einer Definition für Kunst gibt. Da wir jetzt noch ratloser sind, sollten wir uns vielleicht auf eine sehr allgemeine Definition einigen, die vor allem nicht den großen Fehler begeht, Kunst zu bewerten, zu messen oder mit anderen Disziplinen vergleichen zu wollen. Die einfache Definition lautet folgendermaßen: „Kunst ist ein menschliches Kulturprodukt, das Ergebnis eines kreativen Prozesses. Der Ausübende der Kunst wird Künstler genannt.“ Mit diesem sehr simplen Zugang an ein hochkomplexes Thema und dem Wissen, dass es einen stets gültigen Kunstbegriff nicht geben kann, weil dieser sich immer auch mit dem Wandel von Zeit und Gesellschaft verändert, sollten wir uns einfach begnügen. 

Andere Fragen, andere Antworten

Um Antworten zu finden, müssen wir uns in diesem sehr speziellen Fall die Arbeit antun, uns von der nur scheinbar richtigen Frage zu lösen. Stattdessen sollten wir unsere eigene Kreativität und Denkfähigkeit aktivieren und damit andere Fragen aufwerfen, nach anderen Fragen suchen. Das Problem ist nämlich nicht die Unmöglichkeit einer allgemein gültigen Definition von Kunst an sich, sondern eben die Frage selbst. Was Kunst ist, sollte uns nicht weiter beschäftigen. Was Kunst darf und was sie leisten kann, das sind die entscheidenden Fragen. Erstaunlicherweise hat kein Maler, kein Musiker und kein Dichter eine klügere und mutigere Antwort auf diese Fragen gefunden, als der Chemiker und Nobelpreisträger für Chemie Ernst Otto Fischer (1918 - 2007), der lapidar, aber mit epochaler Wirkung gemeint hat: „Die Kunst muss nichts… die Kunst darf alles.“  


„Die Kunst muss nichts… die Kunst darf alles.“  

Auf diesen erstaunlichen Satz des Wissenschaftlers Ernst Otto Fischer, der das grundsätzliche Wesen und die eigentliche Bestimmung von Kunst sehr simpel zu definieren weiß, können sich naturgemäß Heerscharen von weltoffenen Künstlern aller Sparten einigen. Dieser Satz, der nicht von ungefähr in seiner Mitte in ein Loch zu stürzen scheint, aus dem er sich dann aber ohne große Mühe wieder herauszuschälen weiß, offenbart uns in wenigen Worten, was die Kunst der Wirtschaft, aber auch der Wissenschaft oder dem klassischen Handwerk voraus hat, nämlich absolute und unumstößliche Freiheit. Solange die Kunst und mit ihr der „Kunstarbeiter“, der Künstler,sich von politischen oder wirtschaftlichen Systemen nicht vereinnahmen lassen, solange ist die Kunst in jede nur erdenkliche und mögliche Richtung hin frei. Wenn die Kunst nicht schamlos instrumentalisiert oder mit nackten Zahlen aufgewogen wird, dann hat sie eigentlich nur eine Aufgabe: Sie darf und muss uns darauf hinweisen, dass unserem Denken und Handeln keine Grenzen gesetzt sind. Formale oder ästhetische Betrachtungen der Kunst verlieren angesichts all dessen vollkommen an Bedeutung. „Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre Freiheit“ (Ludwig Hevesi,) ist unterhalb der goldenen Kuppel der weltberühmten Wiener Secession in großen Lettern zu lesen. Ein Postulat, das in alle Ewigkeit Bestand haben wird.


Die Kunst fordert sich selbst immer wieder

Kunst lässt sich nur unzureichend bis gar nicht definieren, soviel wissen wir schon. Und sie genießt absolute und uneingeschränkte Freiheit. Darüber hinaus aber verlangt sie von sich selbst, als auch dem Arbeiter an ihr, dem Künstler, immer und immer wieder wichtige Punkte einzufordern. Konkret fordert die Kunst von sich und den Künstlern folgendes: 
- Kreativität 
(der Motor, die Seele, DIE nie versiegende Quelle für Kunst und Künstler)
- freies und radikales Denken 
(ist unumstößlich und liegt aller Kunst, allem Neuen und aller Innovation zu Grunde)
- allerhöchste Risikobereitschaft (immer wieder wagt es die Kunst, neue und unbekannte Wege zu gehen und damit immer wieder auch Komfortzonen zu verlassen)
- Angstlosigkeit 
(Angst macht Kunst unmöglich; nur die Angstlosigkeit ermöglicht  Innovation; in der Kunst haben Feiglinge keine Chance)  
- Beharrlichkeit 
(beherzt an einer Sache dranbleiben, über eine gefühlte Ewigkeit, auch dann, wenn niemand anders an die Sache glaubt)
- Unangepasstheit 
(Die Kunst schert sich nicht darum, was man von ihr hält und unterliegt grundsätzlich keinen Trends, sie ist vielmehr Trendsetter)
- Mut 
(neben der Kreativität der zweite Motor und Antrieb für die Kunst und den Künstler; ohne Mut gibt es nur nichts sagende, hohle und verzichtbare Kunst)

Was für die Kunst gilt, gilt auch für die Wirtschaft

All diese Tugenden sind Grundbedingungen für die Kunst und für künstlerisches Schaffen. Aber sie sind NICHT Eigentum der Kunst. Jedes Individuum, jede Gruppierung und jede Interessengemeinschaft darf und soll sich dieser Eigenschaften und Tugenden bedienen. Vor allem für moderne, agile Unternehmen, die angesichts der aktuellen, globalen  Geschehnisse nicht in Schockstarre verfallen sind, werden die zentralen Punkte der Kunst, wie etwa die Kreativität, die Angstlosigkeit, der Mut oder die Risikobereitschaft zukünftig gewichtige Säulen darstellen. Mehr als je zuvor. 

Die eigene Komfortzone verlassen, weil dieser „geschützte“ Bereich sich bald schon als Grab erweisen könnte, verlangt MutDie Veränderungen der Welt (Digitalisierung, neue ethische und moralische Aspekte) nicht nur zu akzeptieren, sondern diese mitgestalten zu wollen, verlangt die Fähigkeit für radikales und freies Denken. Teams und Strukturen, die sich möglicher Konfrontationen (im Innen, wie im Außen) nicht entziehen, sondern bereit sind, in Bereiche vorzudringen, die mit Garantie keine Wohlfühloasen sind, haben sich die Angstlosigkeit auf ihre Fahnen geheftet. Einen ganz eigenen Weg gehen, sich nicht beirren und verführen lassen vom Konzept des „schnellen Erfolgs“ (wer vom schnellen Erfolg träumt, sollte sein Glück im Kasino versuchen), sondern an den eingeschlagenen Weg mit Herz, Hirn und aller Kraft glauben, verlangt Beharrlichkeit.Die Welt braucht keine angepassten, verängstigen und planlosen Schafe. Die Welt braucht Menschen, Teams und Unternehmen, die mutig, angstbefreit und risikobereit agieren. In der Kunst, wie in der Wirtschaft! 


Es soll zusammenkommen, was zusammen gehört

Immer schon waren sich Kunst und Wirtschaft innig. Immer schon standen sie in einem existentiellen Kampf und auch Naheverhältnis zueinander. Waren es einst die Kirche und der Adel, die Kunst finanzierten und damit künstlerische Visionen, Innovationen und Unglaublichkeiten ermöglichten, sind es seit der Neuzeit Kunstsammler, Familien und Unternehmen, die diese wichtige Aufgabe übernommen haben. Ohne die schönen Künste (die bildende Kunst, die Musik, die Literatur, die darstellende Kunst und seit nicht allzu langer Zeit auch der Film, die performative Kunst etc.) wäre die Welt ohne Licht, Glanz und Hoffnung. Sie wäre nur dunkel. Dies ist den Ermöglichern und Förderern von Kunst völlig klar. Im hier und jetzt heißt es deshalb, die Kräfte noch mehr zu bündeln, voneinander zu lernen, die verschiedenen Disziplinen nicht parallel laufen zu lassen, sondern noch entschiedener zusammenführen, was prinzipiell immer schon zusammen gehört hat. Auf dass es nicht dunkel wird in der Welt.


Der Künstler - Visionär und Arbeiter

Der Ausübende der Kunst ist der Künstler. Er ist angstbefreiter Visionär und harter Arbeiter in einem. Wie diese scheinbar völlig diametralen Attribute unter einen Hut zu bringen sind, warum der Leiter (selbst Künstler) eines künstlerischen Kollektivs auch hervorragende Führungsqualitäten haben muss, und was Führungskräfte konkret von Künstlern lernen, beherzigen und auch übernehmen können, will ich Ihnen im nächsten Teil meines fortlaufenden Journals „THE ART OF CONDUCTING“ verraten. 

Stay foolish and stay hungry,

Oliver Welter

Autor: Oliver Welter  Leadsänger Naked Lunch, Bühnenautor und Komponist.

Autor: Oliver Welter
Leadsänger Naked Lunch, Bühnenautor und Komponist.