First Principle Thinking
Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz ermöglicht neue Geschäftsmodelle, bedroht bestehende Branchen und transformiert unsere Wirtschaft endgültig von der Industriegesellschaft zur Wissensgesellschaft. Ich erlebe gerade in vielen Bereichen einen tiefgehenden Strukturwandel, Arbeit und Organisationen werden nun grundlegend transformiert. In den Technohubs auf der ganzen Welt wie im Silicon Valley wird jetzt intensiv an den nächsten Disruptionen gearbeitet. Diese werden aber oft von Unternehmen ausgelöst, die nicht aus traditionellen Branchen kommen, wie es uns Tesla mit der Revolution in der Automobilbranche oder AirBnB in der Hotelbranche zeigen. Und alle diese Unternehmen, aber auch große Denker wie Einstein, Edison bis hin zu antiken Philosophen wenden ein radikales Denkprinzip an: First Principle Thinking!
Normalerweise denken wir in Analogien, d.h. wir entwickeln unsere Gedanken nur auf Grundlage dessen, was wir schon kennen, erfahren haben oder glauben zu wissen. Egal ob in der Wirtschaft, Gesellschaft oder in der persönlichen Entwicklung. Wir konzentrieren uns oft nur auf die Form und vergessen die Bedeutung.
Für die NASA war es jahrzehntelang Gesetz, dass millionenteure Raketen nur einmal verwendet werden können. Eine sehr teure Wahrheit, die nie hinterfragt wurde. Bis Musk ihnen mit Space X bewies, dass er Raketen bauen kann, für einen lächerlichen Bruchteil der üblichen Kosten, nämlich nur mit unglaublichen 2% .
Beispiel: Uns nervt uns das Gewicht unseres Koffers, woraufhin wir leichtere Materialien verwenden, was eventuell eine Erleichterung von 5 % bringen. Überdenken wir hingegen die Funktion des Koffers neu, so bauen wir einfach Rollen darunter und entfernen so das ursprüngliche Problem, oft mit einem Faktor 100.
First Principle Thinking bedeutet, dass man eine Fragestellung, ein Thema oder das zu lösende Problem auf den innersten Kern herausgeschält und nicht, wie es oft der Fall ist, Abwandlungen (Analogien) verwendet. Das bedeutet, dass man frei ist von preconceived notions und das Problem auf den Kern reduziert – auf die fundamentale Wahrheit – und von dort zu entwickeln beginnt.
Schritte im First Principle Thinking
Schritt 1: Innere Überzeugungen, Annahmen und Glaubensmuster erkennen!
Das erste Prinzip haben die griechischen und römischen Philosophen als sogenannte „fundamentale Wahrheit“ definiert, der der Kern einer Sache ist, unabänderlich und richtig. Es ist sozusagen der Boden der Erkenntnis, unter den es nicht tiefer geht und an dem nichts zu rütteln ist.
Bis dorthin werden aber alle Überzeugungen, Annahmen und Glaubensmuster hinterfragt, die die Basis für unsere Handlungen sind, wie zum Beispiel:
-Müssen Flugzeuge CO2 ausstoßen?
-Muss ich bis 20:00 Uhr im Büro bleiben, damit es geschäftig aussieht? Nur, weil alle es machen?
Diese Annahmen oder Glaubensmuster betreffen alle möglichen Formen des Lebens, das eigene Lebenskonzept, wie wir Beziehungen gestalten oder wie wir überhaupt das Leben sehen.
Schritt 2: Das Fragestellung “zerlegen”
Im zweiten Schritt wird die Fragestellung in seine Bestandteile aufgebrochen, es werden alle einzelnen Details klar und die fundamentalen Eigenschaften sichtbar. Dafür bieten sich einfache visuelle oder graphische Darstellungen, Aufstellungen oder Bühnenarbeit an, alles ist erlaubt um zum Kern vorzudringen.
Schritt 3: Die Bestandteile werden zu neuen Lösungen zusammen gebaut.
Am Ende setzen Sie die Einzelteile völlig neu zusammen, radikal und frei. In einem Raum der alles zuläßt und keine einschränkenden Annahmen hat.
Beispiel Batterie
Das Problem: Batterien sind sehr teuer – im Schnitt 600 Dollar pro Kilowattstunde. Die Grundannahme: Batterien sind eben teuer und das wird auch so bleiben.
Im 1. Schritt des First Principles Thinking würde man nun diese Grundannahmen (teuer, keine Änderung in Sicht) identifizieren und beiseite schieben.
Im 2. Schritt geht es darum, das Problem von Grund auf zu erfassen. Im Beispiel wäre eine mögliche Frage: „Aus welchen Materialien bestehen Batterien? Zu welchem Preis werden sie gehandelt? Was würde es uns kosten, die Materialien an der Börse zu kaufen?“ Dieser Preis läge dann etwa bei 80 Dollar pro Kilowattstunde.
Der 3 Schritt befasst sich dann mit der Frage, wie sich die Bestandteile auf kluge Art und Weise zu Batteriezellen kombinieren lassen – und man erhielte also Batterien, die nur einen Bruchteil dessen kosten, was Batterien sonst kosten.
Mit Sokratischen Dialogen zu First Principle Thinking
Es handelt sich dabei um einen disziplinierten Befragungsprozess, der dem Handeln zugrunde liegenden Annahmen aufdeckt und Wissen von Unwissenheit trennt. Der Hauptunterschied zwischen sokratischer Befragung und normalen Diskussionen besteht darin, dass erstere versucht, erste Prinzipien auf systematische Weise herauszuarbeiten.
Ablauf sokratische Dialoge und Fragestellungen:
-Klärung des Denkens und Erläuterung der Ursprünge der Ideen: Warum denke ich das? Was genau denke ich?
-Anfechtung von Annahmen: Woher weiß ich, dass dies wahr ist? Was wäre, wenn ich das Gegenteil denken würde?
-Nach Beweisen suchen: Wie kann ich dies Annahmen untermauern? Was sind die Quellen?
-Alternative Perspektiven in Betracht ziehen: Was könnten andere denken? Woher weiß ich, dass ich richtig liege?
-Konsequenzen und Auswirkungen untersuchen: Was ist, wenn ich falsch liege? Was sind die Konsequenzen, wenn ich falsch liege?
-Die ursprünglichen Fragen in Frage stellen: Warum habe ich das gedacht? Hatte ich Recht?
-Welche Schlussfolgerungen kann ich aus dem Argumentationsprozess ziehen?
In der griechischen Antike wurde dieser Prozess “Mäeutik “oder„Hebammenkunst“ genannt. Ganz praktisch kann man dazu jeweils ein Blatt für die Hypothesen, dann ein Blatt für die Fragen zu den Hypothesen und dann ein Blatt für die Antworten zu den Hypothesen verwenden. Dieser Erkenntnisvorgang vor allem in einer Gruppe braucht aber Zeit, Vertrauen und im besten Fall einen guten Moderator, der diesen Prozess fördern kann.
Persönliche Voraussetzung
Radikales Denken in Form von “First Principle Thinking” als Führungskraft ist aber nur möglich, wenn eine persönliche Offenheit vorhanden ist, Dinge zu hinterfragen und Dinge auch loszulassen. Sich selber in Frage zu stellen, sich nicht zu ernst zu nehmen und vor allem zuzuhören.
Das funktioniert nicht in einem kleinen Ego, das nur festhalten und verteidigen möchte, nicht in Möglichkeiten denkt. Das Denken in First Principles ist für Menschen ungewöhnlich und benötigt daher einen Extraschub an Willenskraft, Mut und Vertrauen, denn die übliche Reaktion ist “das haben wir schon immer so gemacht”. Das gelingt nur in einer Unternehmenskultur der Transparenz und Eigenverantwortung, genau wie es uns Netlfix zeigt.
Ich bin davon überzeugt, dass man diese Art des Denkens bis zu einem gewissen Grad auch lernen kann, obwohl es Grenzen gibt. Voraussetzung dafür ist ein sogenannter “growth mindset”, im Grunde offen sein für das Neue, Ambiguitäten annehmen, Polaritäten aushalten und vor allem Probleme als Herausforderungen annehmen. Gerade die Schule ist ein guter Ort um jungen Menschen bereits in den früheren Jahren diesen Mindset und diese Denkweise zu entwickeln.
Wir haben in unserer Welt unfassbare Herausforderungen, sei es der Klimawandel oder soziale Ungerechtigkeiten. Mich fasziniert diese Art des Denkens, die leider gerade hier in Österreich so wenig gefördert wird. Überall erlebe ich den Wunsch nach linearem Denken, bürokratische Strukturen zu bewahren, was das Neue blockiert.
Die Zeiten der Komfortzonen sind aber mit der Pandemie endgültig vorbei, wir werden uns nur mit einem radikaleren Denken weiter entwicklen. Wir sollten damit nicht zu lange warten.
Literatur
Literatur: Ray Dalio, Principles
Werner Sattlegger; “Die Kunst reifer Führung”
Lernreise Silicon Valley, 16.Oktober - 20. Oktober, 2023
Experte für digitale Entwicklungsprozesse, wo er europäische mittelständische Familien- und Industrie-unternehmen von der Komfort- in die Lernzone bringt. Leidenschaftlich gerne verbindet er Menschen und Unternehmen, liebt die Unsicherheit und das Unbekannte, vor allem bewegt ihn die Lust am Gestalten und an Entwicklung.