Frustration Trap

Seit über 20 Jahren beschäftige ich mich intensiv mit Führung, Sinn und Motivation in Organisationen – und genauso lange gibt es die Gallup-Umfrage. Jedes Jahr wird im deutschsprachigen Raum eine Studie durchgeführt, die Motivation, Engagement und die Verbundenheit der Mitarbeitenden mit ihrem Arbeitgeber misst. Die Ergebnisse waren schon immer alarmierend, haben mich oft schockiert und betroffen gemacht. Doch die gestern veröffentlichten Zahlen für 2024 sind dramatisch und setzen neue Negativrekorde. Welche das sind und was wir jetzt tun können – darum geht es in diesem Beitrag.

Frustrations Pandemie

Die emotionale Bindung der Beschäftigten an ihre Arbeit hat in Deutschland einen historischen Tiefpunkt erreicht. Laut dem aktuellen Gallup Engagement Index Deutschland 2024 - der gestern veröffentlich wurde - zeigt sich ein besorgniserregender Trend:

  • 78 % der Beschäftigten machen nur noch Dienst nach Vorschrift – ein dramatischer Anstieg im Vergleich von 67 % im Vorjahr. Sie erledigen zwar ihre Aufgaben, zeigen aber keine Eigeninitiative und übernehmen kaum Verantwortung. Diese Gruppe ist nicht destruktiv, aber sie fehlt als treibende Kraft für Innovation, Qualität und Produktivität.

  • Nur noch 9 % der Beschäftigten erleben eine Führungskultur, die zu einer hohen emotionalen Bindung führt – das ist der niedrigste Wert seit Beginn der Erhebung im Jahr 2001.

  • 13 % haben schon innerlich gekündigt oder sind sogenannte Saboteure und arbeiten gegen das Unternehmen.

  • Insgesamt sind fast 2 Millionen Menschen weniger als im Vorjahr mit voller Motivation im Job. Pro Prozentpunkt Veränderung bedeutet dies 390.000 Beschäftigte mehr oder weniger, die mit Herz und Verstand bei der Arbeit sind.

Auswirkungen: Produktivitätsverlust und Wechselbereitschaft

Vor allem sind die Auswirkungen nicht auf auf emotionaler Ebene, sondern haben ganz konkrete betriebswirtschaftliche Folgen. Denn innere Kündigung beeinträchtigt nicht nur die Leistungs und Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens, sondern stellt auch ein volkswirtschaftliches Problem dar. Die durch Produktivitätseinbußen entstehenden Kosten summierten sich im Jahr 2024 auf eine Summe zwischen 113,1 und 134,7 Milliarden Euro (Berechnung auf Basis von Zahlen des Statistischen Bundesamtes aus dem Jahr 2024).

Wechselbereitschaft: Loyalität bröckelt – jeder Zweite will gehen

Eine weitere Fogle ist die Wechselbereitschaft, die dramatisch weiter steigt: Nur noch 50 Prozent der Beschäftigten sehen sich in einem Jahr noch bei ihrem Arbeitgeber (2018: 78 %). Das ist in Zeiten des demografischen Wandels für Unternehmen eine existentielle Bedrohung.

  • Auch mittelfristig ist die Perspektive alarmierend, nur 34 Prozent planen, in drei Jahren noch beim aktuellen Unternehmen zu sein (2023: 40 %). Damit ist der Wert seit 2018 um 31 Prozent gefallen (65 %).

  • 70 Prozent der emotional hoch gebundenen Arbeitnehmenden sind aktuell nicht offen für Neues – während 63 Prozent der inneren Kündiger aktiv suchen (23 %) oder sich umschauen (40 %).

Diese Zahlen zeigen deutlich: Unternehmen müssen dringend in gute Führung investieren. Mitarbeitende brauchen mehr als nur Aufgabenlisten und Zielvorgaben – sie brauchen echte Wertschätzung, persönliche Gespräche und eine Führung, die zuhört und unterstützt.

Besonders alarmierend ist das dramatische Absinken des Vertrauen in die Führung.

  • Nur noch 21 Prozent vertrauen ihrer Führungskraft uneingeschränkt (2019: 49 %; 2022: 41 %). Die Zufriedenheit mit der eigenen Führungskraft sinkt auf 16 Prozent (2023: 22 %)

Ursachen und was wir tun können

Laut den aktuellen Studien liegt die Verantwortung für die steigende Demotivation bei den Unternehmen und Fürhungskräften. Zwar setzen diese mittlerweile Maßnahmen gegen Demotivation um, doch es fehlt es den MitarbeiterInnen an Wertschätzung, Beziehung und Sinn.Das Ergebnis: Immer mehr Mitarbeitende leisten nur noch Dienst nach Vorschrift. Entscheidend wird nun, eine Führungskultur zu etablieren, die nicht nur Frustration abbaut, sondern eine starke emotionale Bindung schafft. Diese Bindung wird meiner Erfahrung nach vor allem durch die direkte Beziehung des Cehfs zum Mitarbeiter ermöglicht.

In meinen persönlichen Erfahrungen im Management oder in der Begleitung von Führungkräften habe ich immer wieder erlebt, dass echte Führung sich nicht durch Zahlen, Dashboards oder E-Mails definiert, sondern durch echte, authentische Präsenz.

  • Beziehungen sind der Kern jedes erfolgreichen Unternehmens, und doch gibt es heute einen besorgniserregenden Mangel an echter Wertschätzung. Führungskräfte sind oft so mit operativen Aufgaben ausgelastet, dass sie das Fundament ihres Erfolges – die Menschen – aus dem Blick verlieren.

Ich erinnere mich an einen Moment in meiner Karriere, als ich eine Kulturveränderung in einem Unternehmen begleiten durfte. Der entscheidende Aha-Moment kam, als die Führungsebene erkannte, dass sie sich in Meetings und hinter E-Mails versteckte, anstatt den direkten Kontakt zu ihren Mitarbeitenden zu suchen.

Doch während viele Manager an ihrem Schreibtisch klebten, gab es eine Führungskraft, die einen völlig anderen Weg ging. Jeden Tag nahm sie sich bewusst Zeit, durch die Produktionshallen zu gehen. Besonders auffällig:

  • Sie verbrachte regelmäßig ihre Pausen mit den Produktionsmitarbeitenden – nicht in Konferenzräumen, sondern draußen bei einer Zigarette oder einem Kaffee.

Was diese Führungskraft tat, war nicht revolutionär. Sie stellte keine tiefgründigen Fragen, gab keine direkten Anweisungen oder sofortige Lösungen vor. Sie war einfach da – hörte zu, ließ die Mitarbeitenden erzählen, ohne sofort zu bewerten oder zu analysieren. Das Resultat? Sie war mit Abstand die beliebteste Führungspersönlichkeit im Unternehmen. Jeder sagte über sie: „Mit ihm kann man einfach gut reden.“

In einer Welt, in der viele Manager glauben, dass Führung bedeutet, alles zu kontrollieren oder stets strategische Lösungen anzubieten, zeigt dieses Beispiel: Manchmal reicht es, präsent zu sein, zuzuhören und den Menschen das Gefühl zu geben, dass sie gesehen und gehört werden.

Die Renaissance des Management by Wandering Around (MBWA)

Bereits in den 1980er-Jahren machte der Management-Guru Tom Peters das Konzept des Management by Wandering Around (MBWA) bekannt. Inspiriert durch Hewlett-Packard, wo Führungskräfte regelmäßig an den Arbeitsplätzen ihrer Mitarbeiter vorbeischauten, um informelle Gespräche zu führen, argumentierte Peters, dass Manager die Orte und Menschen aufsuchen sollten, an denen die eigentliche Arbeit passiert.

  • Menschen wollen gesehen werden. Eine Studie von Pablo Casas-Arce (Arizona State University) und Co-Autoren untersuchte den Effekt kurzer, motivierender Besuche eines neuen Abteilungsleiters in 79 Filialen einer lateinamerikanischen Bank. Das Ergebnis: Die Vertriebsproduktivität stieg messbar an, sogar bevor die Arbeit offiziell begann. Besonders profitierte der Umsatz in den besten Filialen.

MBWA ist nicht nur eine Motivationsstrategie, sondern auch eine Methode zur besseren Problemerkennung. Toyota lebt dieses Prinzip mit Genchi Genbutsu („Geh und überzeuge dich selbst“). Dort besuchen Manager regelmäßig Produktionslinien, um Engpässe zu identifizieren und die Kaizen-Philosophie („kontinuierliche Verbesserung“) umzusetzen.

Wann es nicht funktioniert

Wertschätzung und Präsentsein ist kein Mittel zum Zweck, ich kann es nicht vortäuschen oder so tun als ob. Wir sind menschliche Wesen und die meisten Menschen haben ein gutes Sesnorium, wenn etwas nur vorgespielt wird. Denn es fühlt sich dann unecht, schaal oder einfach nur vorgetäuscht an. Wilhelm Reich hat diese Form der Beziehung “Ersatzkontakt” genannt, der vor allem auch dann stattfindet, wenn aus dem zugehörten keine Veränderung stattfindet.

  • Eine Studie von Anita Tucker (Boston University) und Sara Singer (Stanford University) aus dem Jahr 2013 untersuchte Management by Wandering in 19 amerikanischen Krankenhäusern. Hier zeigte sich ein paradoxes Ergebnis: Während leitende Manager Klinikrundgänge machten und nach Verbesserungsvorschlägen fragten, empfanden viele Pflegekräfte ihre Situation als verschlechtert. Der Grund? Die Erwartungen stiegen, aber die Umsetzung blieb aus. Mitarbeiter wurden ermutigt, Probleme zu identifizieren, doch viele dieser Probleme wurden nicht gelöst.

Reife Führung: Beziehungsfähigkeit und Kreativität

Wahre Führung entsteht nicht nur durch Kontrolle und Effizienz, sondern durch die Fähigkeit, Beziehungen aufzubauen und kreative Lösungen zu finden.. Führungskräfte, die aktiv zuhören, Fragen stellen und Menschen auf Augenhöhe begegnen, fördern eine Kultur des Vertrauens und der Innovationsfreude.

Führung ist Beziehung, braucht daher Zeit, Geduld und ganz normale zwischenmenschliche Fähigkeiten wie Wahrnehmung, Empathie oder Interesse. Dies kann weder an Motivationstrainer*innen oder an Berater*innen delegiert werden, noch gelingt es auch immer. Aber dort wo es gelingt, wenn Menschen aufblühen und Potentiale entfalten, die vorher brach lagen, wenn man das erlebt, dann weiß man – es zahlt sich aus! 

  • The Art of Beeing Present

Wir alle kennen das Gefühl, wenn wir in E-Mails, Meetings und Dashboards gefangen sind – wie in einem Hamsterrad. Die Zeit rinnt uns wie Sand durch die Finger, der Druck steigt, und von allen Seiten werden Erwartungen gestellt. Gleichzeitig verändern sich auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Sie lassen sich nicht mehr einfach „abwimmeln“, sind weder devot noch ausschließlich dankbar – sie fordern: Wertschätzung, Potenzialentfaltung und eine Führungskraft, die wirklich für sie da ist.

  • Mit der zunehmenden Digitalisierung hat sich dieses Problem weiter verschärft. Die Pandemie hat Videokonferenzen zur Normalität gemacht, Dashboards liefern in Echtzeit Kennzahlen – Führungskräfte müssen sich theoretisch nicht mehr bewegen, um informiert zu bleiben.

  • Doch diese scheinbare Effizienz hat ihren Preis: den Verlust direkter, persönlicher Kommunikation mit den Menschen. Genau diese persönliche Nähe wird nun im digitalen Zeitalter wieder eingefordert. Führungskräfte müssen als Menschen präsent sein – sie dürfen sich nicht mehr hinter Bildschirmen verstecken.

  • Warum das so wichtig ist, zeigt die aktuelle Gallup Umfrage, die dramatische Ergebnisse diesbzeüglich gebracht hat.

Die Herausforderung für Führungskräfte heute lautet daher: Wann war Ihr letzter persönlicher Besuch bei den Menschen, die Ihr Unternehmen wirklich am Laufen halten?

Autor: Mag. Werner Sattlegger, CEO und Founder Art of Life

Executive Silicon Valley Learning Journey, 02. Juni - 06.Juni, 2025

Quellen:

 

Autor: Werner Sattlegger
Founder & CEO Art of Life

Experte für digitale Entwicklungsprozesse, wo er europäische mittelständische Familien- und Industrie-unternehmen von der Komfort- in die Lernzone bringt. Leidenschaftlich gerne verbindet er Menschen und Unternehmen, liebt die Unsicherheit und das Unbekannte, vor allem bewegt ihn die Lust am Gestalten und an Entwicklung.