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Wie reif ist Ihre Organisation für Agilität?

Zahlen, Daten und Fakten, vor allem Prozesse und Regeln ersticken oft das Miteinander in Unternehmen. “Culture eats strategy at breakfast” ist ein altbekannter Spruch von Peter Drucker, der sehr früh die Notwendigkeit von Unternehmenskultur betont hat.

Was ist aber aber Unternehmenskultur ?

Unternehmenskultur ist kein Leitbild, Wertekanon oder Marketingfolie, sondern es ist die Summe aller Handlungen in einem Unternehmen. Wie gehen wir miteinander um ? Was ist uns wichtig ? Was prägt unsere Kommunikation ? Das sind die Fragen, die für eine Unternehmenskultur relevant sind.

Eine Unternehmenskultur bildet sich im Laufe der Zeit auf der Basis der gemachten Erfahrungen, Handlungen oder stillen Übereinkünfte heraus. Und zwar, ohne dass darüber oft formal entschieden worden wäre. Wenn sich nun ein Unternehmen von einer starren, ängstlichen, hin zu einer agilen, offenen und innovativen Unternehmenskultur bewegen soll, dann sind Organisationen oft überfordert. Agile Projekte oder Design Thinking Workshops verpuffen dann oft als Innovationstheater, was Mitarbeiterinnen nervt und frustriert.

Eine veränderte Unternehmenskultur erfordert aber einen anderen Reifegrad, wie man diesen erkennen und verändern kann, darum geht es in diesem Beitrag.

Wenn Sie wissen wollen, welchen Reifegrad Sie mit Ihrer Abteilung oder Organisation leben, zahlt sich ein Blick auf das sogenannte Value-Graves Modell aus. Wenn Sie wissen, wo sich auf dieser Skala die Reife Ihrer Unternehmenskultur befindet, können Sie von dort mit Ihrer Kulturarbeit beginnen.

Clare W. Graves (1914-1986) war amerikanischer Psychologieprofessor am Union College in New York. Sein ursprünglicher Plan in den 1960er Jahren war, das Modell der Bedürfnishierarchie von Abraham Maslow durch verschiedene empirische Studien zu bestätigen.

Den Anstoß für die Entwicklung dieses Modells gaben im zentrale Fragen seitens seiner Studenten: Weshalb verändern sich manche und manche wiederum nicht? 

Graves Antwort war: "Kurz zusammengefasst behaupte ich, dass die Psychologie reifer Menschen ein sich entfaltender, aus vorhergehenden Stadien hervorgehender, oszillierender, spiralförmiger Prozess ist“.

Damit meint er, dass menschliche Entwicklung kontinuierlich und nie beendet ist. Sie wandelt sich mit der Veränderung der menschlichen Existenzbedingungen, bringt dadurch neue Systeme hervor, in die alte Systeme integriert sind. Grave hat zu Lebzeiten nie eine Publikation beendet, seine Arbeit wurde von seinen Schülern Don Beck und Christopher Cowan in Form der „Spiral Dynamics weiterentwickelt.

Das Modell beschreibt die Weiterentwicklung von verschiedenen aufeinander aufbauenden Wertesystemen, die auch zu unterschiedlichen „Weltsichten und Wertehierachien“ führen. 

Value Graves Modell, http://clarewgraves.com/

Die einzelnen Stufen können genauso auf Reifegrade von Unternehmen und Organisationen verwendet werden, im Konkreten werden diese wie folgt beschrieben:

Stufe 1: „Überleben“ - Individuumsorientiert

Das erste Wertesystem stammt aus der Steinzeit, der Zeit der Jäger und Sammler. 

Hier ist das das reine Überleben im Vordergrund. Nahrung, Wasser, Wärme, Sexualität und Sicherheit stehen im Vordergrund. Das Leben ist Anpassung an die Natur, die Sinne viel schärfer als beim modernen Menschen. 

Grundwerte: Das Leben erhalten, am Leben bleiben. Gefahren schnell erkennen und reagieren.

Grundfarbe: Beige

 

Stufe 2:  „Sicherheit und Identifikation“ – Gruppenorientiert

Die Entwicklung führt den Menschen weiter in die Erfahrung des Stammeslebens. Der Mensch ordnet sich einem Führer unter, die Menschen bildeten Stammes- und Clan-Kulturen um Zugehörigkeit und Schutz zu erleben. Sicherheit und Identität sind somit die wichtigsten Eckpfeiler dieser 2. Stufe. Im Organisationskontext bedeutet es, dass die Größe und Bekanntheit einer Organisation für viele Mitarbeiter relevant ist. Das Problem bei diesen Organisationen ist, dass sie sehr behäbig sind, da sie starr und hierarchisch organisiert sind. 

Grundwerte: Finden von Sicherheit, Blutsverwandtschaft, Harmonie, magische Welt, die Familie und Vorfahren ehren.

Farbe: Purpur 

 

Stufe 3. „Macht und Kraft“ -  Individuumsorientiert und Einzelkämpfer-System

Hier entwickelt der Mensch erstmals ein individuelles Selbst, es befreit sich aus der Identifikation mit der Gruppe. 

Aus dem purpurnen Gruppenzwang befreit sich der Mensch und fühlt sich stark, vertraut auf sein Glück, seine Kraft und Fähigkeiten. Der rot geprägte Mensch verfügt über Werte wie Selbstständigkeit, Eroberungsgeist und Durchsetzungsvermögen.

Wenn Menschen in Organisationen  in Stufe 3 denken: „Die Welt ist rau und hart, nur der Stärkste überlebt“. Ansehen und Prestige sind dabei wichtig. Organisationen in Stufe 3 Zentrierung sind machtorientiert, Stärke und Gesetze stehen im Vordergrund. 

Grundwerte: Dominanz, rebellierender Individualismus, Gewalt, Selbstbehauptung, Charisma, Durchsetzung, Allmacht.

Farbe: Rot 

 

Stufe 4: „Ordnung und Autorität“ – Gruppenorientiert und Loyalisten System 

Durch die Kämpfe auf Stufe 3 erschöpft, suchen die Menschen nun Sicherheit, Ordnung und Gerechtigkeit. Einzelinteressen werden zurück gedrängt und einer höheren Ordnung unterworfen (z.B. dem Glauben). Das Aufstellen und Einhalten von Regeln, ein ausgeprägter Gerechtigkeitssinn und die Verteilung von Aufgaben auf mehrere Personen sind zentrale Merkmale.

In Organisationen erkennt man diese Stufe daran, dass es klar definierte Prozesse gibt und/oder ein effizientes Controlling. 

Grundwerte: Bedeutung in Leben und Tod finden, Leiden ohne zu klagen, Stabilität, Ordnung, Ewigkeit.

Farbe: Rot 

 

Stufe 5: „Leistung und Gewinn“  Erfolgssucher-System

Auch die Entwicklung zu Orange erfolgt wieder durch den Ausbruch Einzelner aus den klaren Regeln von blau. Die Fülle von Möglichkeiten, die die Welt bietet, regt an, das eigene Glück zu suchen. In Orange wollen Personen vor allem: Erfolgreich  und die Besten sein. Wettbewerb und Weiterentwicklung sind der Antrieb dieses Wertesystems.

Grundwerte: Autonomie, materieller Erfolg, Leistung. Profitorientierung, Statusdenken. Wissenschaftliche und technische Innovationen.

Farbe: Orange 

 

Stufe 6: „Team und Gemeinschaft“ - Menschen-System

Die negativen Begleiterscheinungen der orangen Ebene, wie interner Konkurrenzkampf, Vereinsamung, Burn-out führten zu Grün. Wesentliche Grundhaltung ist, dass alle Menschen gleich viel wert sind und es allen gleich gut gehen soll. Es ist wichtig, füreinander zu sorgen, auf den anderen einzugehen und alle zu beteiligen. 

Menschen in diesen Organisationen bemühen sich um Ausgleich und Konsens, um Harmonie und Chancengleichheit. Auch die Erkenntnis, dass ein Team aus Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Hintergründen mehr leisten und Erfolg haben kann, als ein Schar von Einzelkämpfern ist eine wesentliche Errungenschaft dieser Ebene. Auf Ebene von Organisationen ist es vor allem ist es vor allem der Teamkonsens, auf den hier Wert gelegt wird.  

Grundwerte: Zugehörigkeit, Frieden, Balance, Sinn für Gemeinschaft, alle Menschen sind Brüder und Schwestern

Farbe: Grün

  

Stufe 7: „Freiheit und Lernen“-  Individuumsorientiert und die Möglichkeiten-Sucher-System

Schnelle Veränderungen und eine immense Zunahme von Komplexität in der Umwelt führen dazu, dass die Stufe 6 an seine Grenzen stößt. In der Stufe 7 entstehen Werte wie Flexibilität, Spontanität und Funktionalität. Menschen in diesem Wertesystem verstehen, dass Chaos und Veränderung natürlich sind und gehen damit souverän um. Hohe Werte sind Kompetenz, Wissen, Unabhängigkeit und Individualität.

Genau auf dieser Stufe sind lernende Organisationen möglich.

Grundwerte: Wissensdurst, Freiheitsdrang, Entdeckung der Vielfältigkeit des Lebens, Vereinbarkeit des Verschiedenen, Kompetenz. 

Farbe: Gelb

 

Stufe 8:  Nachhaltigkeit und globale Einheit -  Globalisten-System

In dieser Stufe  wird der Blick auf die Welt ganzheitlich. Große Zusammenhänge werden hergestellt. Die Auswirkungen von Entscheidungen auf die Umwelt, die Menschheit und auf nachfolgende Generationen spielen eine entscheidende Rolle. Ganzheitliches, intuitives Denken und kooperatives Handeln mit dem Ziel eines hohen Gesamtnutzens für alle – weit über die Unternehmensgrenzen hinaus – werden erwartet.

Grundwerte: Für alle Lebewesen in einer komplexen Welt einen Platz finden. Harmonie und Verbindung aller Lebewesen.

Farbe: Türkis

 

Was ist der Reifegrad Ihrer Organisation?

Dazu braucht es keine Mitarbeiterbefragung oder wissenschaftliche Analyse. Gehen Sie als Führungskraft in das Unternehmen, das ist hier sehr bildhaft gemeint.

Verlassen Sie den Elfenbeinturm der eigenen Wichtigkeit, hören Sie einmal auf über Ziele oder Ecxeltabellen zu sprechen, sondern beginnen Sie mit einer Tätigkeit, die uns allen schwer fällt:
Zuhören

Dies ist keine Form der Passivität, sondern eine sehr aktive Tätigkeit. Ohne gleich zu bewerten oder zu interpretieren, ohne gleich in Richtig und Falsch zu interpretieren, fangen sie an Handlungen, Kommunikationen und damit Unternehmenskultur wahrzunehmen. 

So können Sie zum Beispiel Ihre Mitarbeiter bitten, ganz konkrete Geschichten oder Narrative aus der Vergangenheit oder Gegenwart aus dem täglichen Miteinander zu erzählen. Jeder kann dazu eingeladen werden und praktisch beitragen. Aus diesem Geschichten können Sie dann Muster oder Ähnlichkeiten erkennen, die dann den Stufen von Clare Graves zugeordnet werden können.  

 

Wie können Sie eine lernende Unternehmenskultur entwickeln?

Die Entwicklungsstufen können nicht ausgelassen werden, da es keine „short cuts“ gibt, weder in der persönlichen noch in der organisatorischen Entwicklung. Erfahrungsgemäß befinden sich Unternehmen und Organisationen zwischen den Stufen 4 und 7. 

Wenn Sie eine lernende Organisation entwickeln wollen, dann sollten Sie sich zumindest auf der Stufe 5 befinden, um im Laufe der Zeit auf die Stufe 7 zu kommen. Genau dorthin entwickeln sich reife Unternehmenskulturen, wenn Sie die nächsten Jahren erfolgreich bleiben.

Dazu gibt es wie in der Entwicklung keine „short cuts“ in Form von Patentrezepten oder Regeln, die alle ihre Schwächen haben und genauso unvollkommen sind, wie dieses Modell. Aber wir Menschen lieben nun mal Modelle und Konzepte, wahrscheinlich weil sie uns in Zeiten des Unfassbaren und Unsicherheit zumindest geliehene Formen und Orientierung geben. 

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Bei all dieser Unsicherheit unterstützen Modelle etwas ganz fundamental Wichtiges, was für jede Entwicklung unabdingbar ist: Bewusstheit (awareness) über das was gerade ist und was ich vielleicht nicht erkenne, den sogenannten blind spot of leadership!  Genau das passiert auch mit Führungskräften und MitarbeiterInnen, wenn Sie sich mit dem aktuellen Entwicklungsstand Ihres Reifegrades in Ihrer Unternehmenskultur beschäftigen. Durch Bewusstheit kann der Entwicklung Richtung gegeben werden, die im Besten Fall organisch und selbstregulierend stattfinden kann. 

Literatur

Werner Sattlegger: “Die Kunst reifer Führung”

Don Beck und Christopher Cowan, „Spiraldynamics - Leadership, Werte und Wandel“, 2007

Veranstaltungen:

Entwicklungsreise Silicon Valley, 03.Juni - 07.Juni, 2024


Autor: Werner Sattlegger

Experte für digitale Entwicklungsprozesse- wo er europäische mittelständische Familien- und Industrie-unternehmen von der Komfort- in die Lernzone bringt. Leidenschaftlich gerne verbindet er Menschen und Unternehmen, liebt die Unsicherheit und das Unbekannte, vor allem bewegt ihn die Lust am Gestalten und an Entwicklung.

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