Gedanken zum Jahreswechsel

Sorgen und Unsicherheiten, bedauern, jammern und beklagen, das höre ich oft in vielen Gesprächen, gerade auch zum aktuellen Jahreswechsel. Aber auch am letzten Tag in diesem Jahr steige ich nicht in diesen Kanon ein, sondern fühle Demut und Dankbarkeit für so viele Dinge in meinem Leben. Was diese Einstellung mit mir aber auch mit uns Menschen macht, darum geht es in diesem Beitrag zum Jahreswechsel.

Beste aller Zeiten

Wir leben zweifelsohne in herausfordernde Zeiten, sei es Inflation, Krieg oder drohende Rezession. Viele Menschen erleben Unsicherheiten oder haben viele Sorgen, dabei vergessen wir aber, in welch privilegierten Zeit wir gerade leben. Wenn man das Rad der Zeit auch nur ein wenig zurückdreht, sieht das Leben noch ganz anders aus.

So lag zum Beispiel die die Lebenserwartung um 1820 bei 26 Jahren, nun liegt sie bei 76 Jahren. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts fielen der Kindersterblichkeit etwas 20% der neugeborenen Kinder während ihres ersten Lebensjahres zum Opfer, heute sind es es weniger als 1%.

Ebenso waren zu Beginn des 19. Jahrhunderts kaum 10% der über 15 Jahren alten Bevölkerung alphabetisiert, heute sind es 85%. 1820 gingen weniger als 10% der Weltbevölkerung in die Grundschule, 2020 besuchten mehr als die Hälfte der jungen Generationen der reichen Länder die Grundschule. (aus Thomas Piketty “Eine kurze Geschichte der Gleichheit”)

Was ich sagen will ist, wir leben heute im Schnitt 3 mal länger als zu Beginn des 19. Jahrhunderts, dürfen lesen, schreiben und uns bilden. Was für eine Gnade, die uns unendliche Freude bereiten sollte. Trotzdem nehme ich Frustration und Jammerei wahr, meiner Meinung ist uns dafür ein wichtiger Schlüssel abhanden gekommen:

Dankbarkeit und Demut.

Dankbarkeit

“Die Wurzel der Freude ist Dankbarkeit. Denn es nicht Freude, die uns dankbar macht - es ist Dankbarkeit, die uns Freude macht” (Bruder David Steindl-Rast")

Wenn man sich mit Dankbarkeit beschäftigt, dann stößt man irgendwann mal auf David Steindl-Rast, ein im Jahr 1926 in Wien geborener Benediktiner Mönch, der ab den 50Jahren in den USA lebt. Seine Bücher haben mir eine völlig andere Sichtweise gegeben, weg von diesem klerikalen und mit Schuld behafteten “Man muss dankbar sein”, hin zu einer Einstellung des Herzens. Dankbar nicht im Sinne “kein schlechtes Gewissen zu haben”, sondern die Dinge zu schätzen, zu würdigen, zu achten und ihnen damit einen Wert zu geben.

Die gute Luft, die sauberen Straßen, die Füße die mich tragen, die Beziehungen zu meiner Familie oder die Gesundheit. Nichts ist selbstverständlich, alles nur geliehen und geschenkt als Gnade. Diese Gefühl verstärkt sich bei mir immer dann, wenn ich auch aufschreibe, für was ich alles dankbar bin.

Ich führe ein Dankbarkeitsbuch, ich schreibe auf oft am Abend eines Tages auf, für was ich dankbar bin. Das verändert gerade in schwierigen Zeiten nicht nur mein Leben, sondern erfüllt mein Herz mit großer Freude. Bisher blieb ja der Begriff der klerikalen, spirituellen Welt vorbehalten, seit geraumer Zeit widmet sich aber die Wissenschaft diesem Phänomen und dessen Auswirkungen. Wie zum Beispiel von Robert Emmons , der im Jahr 2003 eine Reihe von Studien zur Dankbarkeit durchführte.

Emmons‘ Versuchsgruppe sollte 10 Wochen lang abends fünf Dinge notieren, für die sie dankbar waren. Eine zweite Versuchsgruppe schrieb über fünf Ärgernisse des Tages. Das Ergebnis: Die Teilnehmer der Dankbarkeitsgruppe waren optimistischer und zufriedener mit ihrem Leben. Zudem gesünder: sie litten weniger unter Kopfschmerzen, Husten oder Schwindel. Und sie trieben mehr Sport.

Oder Professor Paul J. Mills, spezialisiert auf Psychoneuroimmunologie und Psychosomatik, entdeckte, dass Dankbarkeit die Herzgesundheit von Herzpatienten schützt.

Erlernen könne man die Dankbarkeit nur dann, wenn man Gelegenheiten des Stillhaltens suche, "was in unserer sehr lauten und raschen Welt oft eine schwierige Aufgabe ist", wie Steindl-Rast bekannte, der u.a. Zen-Meditation betreibt. Erst die Stille ermögliche es, "hinzuschauen, hinzuhorchen und sich über die Gelegenheiten zu freuen, etwa an einem Atemzug".

Demut, Teil eines größeren Ganzen zu sein

Der Ausdruck Demut kommt von althochdeutsch diomuoti (‚dienstwillig‘, also eigentlich ‚Gesinnung eines Dienenden‘). Die Bestandteile des Wortes lassen sich weiter herunterbrechen in die beiden Wörter „dienen“ (dionōn) und „Mut“ (muot).

Für mich ist Demut das Gegenteil von Hochmut und die Erfahrung, dass wir im Leben viel mehr Passagier sind als uns lieb ist. Uns wird zwar in immer wieder “Alles ist möglich” vorgegaukelt, was ja auch oft stimmt. Man hat vieles in der Hand, kann einen Unterschied machen und Leistung zahlt sich aus. Aber vieles haben wir nicht in der Hand, wo wir geboren werden, ob wir krank werden oder Schicksalsschläge erleben. Daher ist Demut die Erfahrung eingebetet zu sein in ein größeres Ganzes, wo ich dienen darf.

Im Führungsalltag habe ich auch hochmütige und arrogante Manager erlebt, die irgendwann der Hybris erlegen und tief gefallen sind. “Derailment” (deutsch “Entgleisung” ) wird dieses Phänomen genannt, was die Managementforschung dazu bewegt hat zu untersuchen, was die Gegenbewegung zu Hybris sei: Demut (Forschern wie Bradley Owens). Nach deren Untersuchungen ist Demut, wer die eigenen Stärken und Schwächen erkennt, andere dafür anerkennt, was sie tun, immer lernbereit und offen ist sowie versteht, dass er/sie nur ein kleiner Teil eines größeren Ganzen sind.

"Expressed Humility" ist ein Begriff, der Führungskräfte in Organisationen einen Toolset mitgibt, um Dankbarkeit und Demut zu leben:

  • “Self-assessment”: Wille und Fähigkeit zum unverstellten Blick auf sich selbst; keine Selbstüberschätzung

  • “Appreciation”: das Anerkennen der Beiträge und Kompetenzen anderer Unternehmensmitglieder; Überwindung des kompetitiven Denkens, Empathie und Vertrauensfähigkeit;

  • “Teachability”: Offenheit für Feedback und die Ideen anderer, Bereitschaft zum lebenslangen (Dazu-)Lernen, anhaltende Neugierde, Akzeptanz sozialer und technologischer Veränderungen;

Eine der wichtigsten Erfahrungen in meiner Tätigkeit als Managementtrainer war die Erkenntnis, dass nicht die “Lauten und Blender” die erfolgreiche Manager waren, sondern meistens die leisen und demütigen Menschen. Was auch Jim Collins in seinem Managementbuch “Der Weg zu den Besten” aus dem Jahr 2001 wissenschaftlich bestätigt hat. Demut (humility) ist eine Qualität, die Führungskräfte mit der sogenannten Level-5-Führungskompetenz ausweist, diese sind besonders erfolgreich darin, Unternehmen zu führen.

Demut hat für mich nichts mit Bescheidenheit oder “klein Denken” zu tun, sondern mit der Fähigkeit geerdet zu bleiben, nicht abzuheben, Gnade zu spüren und die Menschen, nicht Funktionen zu sehen.

Ausblick

Staunen, das Wunder des Lebens zu sehen, dankbar sein für das was da ist und Demut leben, das sind Dinge die man lernen kann. Es sind Einstellungen und Haltungen die aus der Stille kommen und ein Leben verändern können. Das bedeutet nicht die rosarote Brille aufzusetzen, sondern Zuversicht zu leben, Möglichkeiten zu sehen, zu handeln und dadurch Freude zu empfinden.

Ich für mich versuche Dankbarkeit und Demut zu leben, was mir nicht immer gelingt, aber wenn dies der Fall ist, dann macht es mich oft unfassbar glücklich.

Ich würde mir für 2023 wünschen, dass dies auch viele andere Menschen in Organisationen leben, dann würde unsere Welt eine andere werden.

Autor: Werner Sattlegger, Founder Art of Life

Lesetipps:

Werner Sattlegger: “Die Kunst reifer Führung”, 2022

David Steindl- Rast, “Die Kraft des Staunens”

Jim Collins, “Der Weg zu den Besten”

 

Autor: Werner Sattlegger
Founder & CEO Art of Life

Experte für digitale Entwicklungsprozesse, wo er europäische mittelständische Familien- und Industrie-unternehmen von der Komfort- in die Lernzone bringt. Leidenschaftlich gerne verbindet er Menschen und Unternehmen, liebt die Unsicherheit und das Unbekannte, vor allem bewegt ihn die Lust am Gestalten und an Entwicklung.