Was wir von der Netflix Unternehmenskultur lernen können
Genau 3 Jahre ist es her, seit ich das Buch vom Netflix Gründer „Keine Regeln“ gelesen und darüber einen Blog geschrieben habe. Schon damals hat mich nicht nur fasziniert, wie dieses noch junge Unternehmen (feiert gerade das 25 Jahr-Jubiläum) nicht nur vor einem nahestehenden Bankrott den Turnaround geschafft, sondern auch 3-mal grundlegend das eigene Geschäftsmodell verändert hat.
Für mich klang das fast immer unglaubwürdig, aber nachdem ich in die Unternehmenskultur eingetaucht bin, war es für mich vollkommen klar – der Schlüssel liegt eben dort begraben, in der Unternehmenskultur von Netflix.
Daher war die Freude umso größer, als wir vorletzte Woche im Rahmen unserer Learning Journey im Silicon Valley dieses tolle Unternehmen persönlich im Headquarter in Los Gatos, CA, besuchen durften.
In diesem Blog beschreibe ich unsere Learnings und was wir genau als Führungskräfte davon mitnehmen können.
Die Netflix Geschichte: Ein revolutionärer Ansatz im DVD-Verleih
Netflix wurde am 29. August 1997 von Reed Hastings und Marc Randolph in Scotts Valley, Kalifornien gegründet und begann mit einer einfachen, aber revolutionären Idee:
Reed Hastings, frustriert über hohe Gebühren für verspätete Rückgaben bei herkömmlichen Videotheken, erkannte das Potenzial eines kundenfreundlicheren Modells:
Gemeinsam mit Marc Randolph gründete er Netflix als DVD-Verleih per Post. Das Abonnement-System, das unbegrenzte Ausleihen ohne Verspätungsgebühren ermöglichte, revolutionierte die Branche und legte den Grundstein für die Innovationskultur des Unternehmens.
Die erste Krise: Finanzielle Turbulenzen und die Beinahe-Übernahme durch Blockbuster
Die frühen Jahre von Netflix waren von finanziellen Schwierigkeiten geprägt. Das Unternehmen stand kurz vor dem Bankrott und sah sich 2000 gezwungen, einen drastischen Schritt zu erwägen:
den Verkauf an Blockbuster, den damaligen Marktführer im Videotheken-Geschäft. In einem denkwürdigen Treffen boten Hastings und Randolph dem Unternehmen Blockbuster an, Netflix für 50 Millionen Dollar zu verkaufen. Blockbuster lehnte das Angebot ab und erkannte das Potenzial des aufkommenden DVD-Verleih-Marktes nicht.
Dieser Rückschlag hätte das Ende von Netflix bedeuten können, wurde jedoch zum Katalysator für eine tiefgreifende Transformation. Hastings und sein Team nutzten die Ablehnung als Ansporn, härter zu arbeiten, die Organisation schlanker und agiler aufzustellen, sowie das Geschäftsmodell zu optimieren.
Treppenwitz der Geschichte, Jahre später ging dann Blockbuster bankrott und wurde von Netflix übernommen.
2. Die ersten großen Entlassungen und die kulturelle Wende
Ein weiterer Wendepunkt in der Geschichte von Netflix war die Entscheidung, während der Dotcom-Blase 2001 rund ein Drittel seiner Belegschaft zu entlassen, um die finanziellen Schwierigkeiten zu überstehen. Diese schmerzhafte Maßnahme führte zu einer grundlegenden Veränderung in der Unternehmenskultur, die bis heute der Schlüssel für den Erfolg ist:
Hastings erkannte, dass Eigenverantwortung, Context not Control, Freiheit und Offenheit erforderlich waren, um das Unternehmen voranzubringen. Diese Phase prägte die Kultur von Netlfix bis heute, Netlfix bleibt trotz seiner Größe (12.000 MA, über 30 Milliarden Dollar Umsatz) adaptiv und extrem innovativ.
Wie Geschäftsmodelle disruptiert wurden
Die erste Disruption: Vom physischen Verleih zum digitalen Streaming
2007 erkannte Hastings eine transformative Gelegenheit: den Einstieg in den Video-Streaming-Markt. Diese strategische Entscheidung basierte auf der Erkenntnis, dass schnelle Internetverbindungen und die zunehmende Akzeptanz von Online-Videos eine neue Ära des Konsums einläuteten.
Die zweite Disruption: Vom Distributionskanal zum Content-Produzenten
Der nächste große Wandel kam 2013 mit der Entscheidung, eigene Inhalte zu produzieren. Die Veröffentlichung der ersten Eigenproduktion „House of Cards“ markierte einen Wendepunkt. Netflix erkannte, dass exklusive Inhalte ein mächtiges Werkzeug zur Kundenbindung und Differenzierung im hart umkämpften Markt sein würden.
Diese strategische Ausrichtung erforderte erneut eine Anpassung der Unternehmenskultur. Netflix musste kreative Talente anziehen und eine Umgebung schaffen, die Innovation und künstlerische Freiheit förderte. Hastings baute eine Kultur auf, die hohe Leistung und Verantwortung betonte, was es dem Unternehmen ermöglichte, einige der besten Talente der Branche zu gewinnen und zu halten.
Die dritte Disruption: Globale Expansion und datengetriebene Entscheidungen
Die jüngste Transformation von Netflix beinhaltet die globale Expansion und die Nutzung von Daten zur Optimierung von Inhalten und Kundenerfahrungen. Mit Millionen von Abonnenten weltweit und einer umfangreichen Bibliothek an Inhalten hat Netflix seine Präsenz auf fast allen Kontinenten ausgedehnt.
Einzigartige Unternehmenskultur von Netflix
Viele Unternehmenskulturen sind heute noch starr und unflexibel, scheuen das Neue zu entdecken, bleiben zu oft in der Komfortzone und meiden das Unbekannte. Vor allem sind viele Kulturen von Intransparez, Politik und Seilschaften geprägt, wo nicht der Beste und Leistung zählen, sondern “geheime, soziale Verträge”.
Bei Netflix ist dies radikal anders, davon konnten wir uns persönlich ein Bild machen. Dort werden Mitarbeiter belohnt, die offen ihre Meinung sagen, den Status quo hinterfragen und schwierige Entscheidungen treffen können.
Hier sind einige praktische Beispiele, wie die Kultur bei Netflix gelebt wird:
Offenheit und Transparenz:
Mitarbeiter werden ermutigt, ihre Meinung zu äußern, auch wenn sie unangenehm ist. Dies fördert eine Kultur der Offenheit und des Vertrauens.
Beispiel Informative Captain:
Als wir das Headquarter besuchten, staunten wir nicht schlecht. Ein rundes Diskussionsforum, ähnlich wie im alten Griechenland, ermöglicht dort offenen und ehrlichen Austausch im Rahmen der sogenannten "Informative Captains".
Wenn man als Führungskraft ein Projekt oder eine Änderung vorschlägt, gibt es einmal pro Woche ein strukturiertes Verfahren, um sich Feedback einzuholen – man nennt sich dann der "Informative Captain".
Der “Informative Captain” erstellt einen One-Pager, auf dem genau beschrieben wird, was genau wie und warum geplant ist.
Es wird eine gemischte Runde eingeladen, die sich in diesem Forum (siehe Bild unten) zusammenfindet. Alle haben den One-Pager vorher gelesen; es gibt keine PowerPoint-Präsentationen oder sonstiges Bla Bla.
Der Informative Captain erhält eine halbe Stunde lang ehrliches, manchmal auch konfrontatives Feedback zu seinem Vorhaben.
Er muss sich vor allen rechtfertigen.
Diese Runde dient als „Rüttelstrecke“, um blinde Flecken und Verborgenes zu erkennen, Widersprüche aufzuzeigen und mögliche Fehlentwicklungen frühzeitig zu identifizieren.
Nach Ende des Meetings bleibt die Entscheidung beim “Informative Captain”, da er die Verantwortung trägt.
Diese Verantwortung ist nun noch größer, da er sich zuvor Feedback eingeholt hat, aber muss und wird entscheiden.
Kritisches Hinterfragen:
Mitarbeiter sollen den Status quo kritisch hinterfragen und nicht einfach akzeptieren. Dies treibt Innovation und kontinuierliche Verbesserung voran.
Beispiel “Keeper Test”: Ein Manager bei Netflix überprüft regelmäßig die Leistung jedes Teammitglieds und stellt sich die Frage:
"Würde ich diese Person heute wieder einstellen, wenn sie mich verlassen würde?"
Wenn die Antwort "nein" lautet, bespricht der Manager offen die Leistungserwartungen mit dem Mitarbeiter und bietet Unterstützung zur Verbesserung an.
Wenn keine Verbesserung erkennbar ist, wird dem Mitarbeiter eine großzügige Abfindung angeboten, um Platz für neues Talent zu schaffen
Eigenverantwortung, Flexibilität und Vertrauen:
Mitarbeiter haben die Freiheit und die Verantwortung, schwierige Entscheidungen zu treffen, ohne sich in bürokratischen Prozessen zu verlieren.
Beispiele:
Netflix hat keine festen Urlaubsrichtlinien und vertraut darauf, dass MitarbeiterInnen ihre Zeit selbstständig und verantwortungsvoll managen.
Reiserichtlinien gibt es auch nicht, jeder ist aufgefordert mit dem Geld des Unternehmens so umzugehen, als ob es das Eigene wäre.
Fokus auf Ergebnisse: Netflix belohnt Mitarbeiter basierend auf ihren Ergebnissen und nicht auf der Zeit, die sie im Büro verbringen. Dies schafft eine leistungsorientierte Kultur.
Annual 360-Degree Reviews Während der jährlichen 360-Grad-Bewertungen bei Netflix geben Mitarbeiter anonymes Feedback zu ihren Kollegen und Vorgesetzten.
Context, not Control
“Context, not Control" bei Netflix bezieht sich auf eine Führungsphilosophie, die darauf abzielt, Mitarbeiter zu befähigen und ihnen die Freiheit zu geben, eigenständige Entscheidungen zu treffen. Anstatt den Mitarbeitern detaillierte Anweisungen zu geben und ihre Handlungen streng zu überwachen, schafft das Management einen Rahmen, der den Kontext für Entscheidungen klar definiert.
Ein Beispiel für "Context, not Control" bei Netflix ist die Art und Weise, wie Projekte gehandhabt werden. Statt detaillierte Anweisungen zu geben, erklärt ein Projektleiter das übergeordnete Ziel und den Kontext des Projekts.
Die Organisation und Struktur von Netflix:
Netflix ist bekannt für seine schlanke und dezentrale Organisationsstruktur, die wesentlich zur Innovationskraft und Agilität des Unternehmens beiträgt. Diese Struktur spiegelt die Kernphilosophie von Netflix wider, die "Menschen über Prozesse" stellt, und zielt darauf ab, ein Team von hochqualifizierten Mitarbeitern zu schaffen, die gemeinsam die Welt unterhalten.
Netflix operiert nicht mit einer traditionellen hierarchischen Struktur, sondern setzt radikal auf eine flache Hierarchie. Das bedeutet, dass es wenige Ebenen des mittleren Managements gibt, keine sogenannte Lehmschicht, wo viele Manager sich mit sich selber beschäftigen oder sinnlose Projekte betreiben. Es gibt auch keine sogenannten weise Elefanten (erfahrene Manager, die keine operative Funktion mehr haben) , die oft Veränderungen boykotieren.
Diese Struktur ermöglicht schnelle Entscheidungsfindung und Reaktionsfähigkeit auf Veränderungen im Markt.
Beispiel: Ein Content-Manager bei Netflix kann direkt mit dem Vorstand kommunizieren, ohne durch mehrere Hierarchieebenen gehen zu müssen. Dies beschleunigt die Entscheidungsprozesse und ermöglicht es, innovative Ideen schneller umzusetzen.
Ein weiteres Schlüsselelement der Netflix-Struktur sind kleine, schnelle und autonome Teams, die für bestimmte Geschäftsbereiche wie Content, Produktentwicklung und Marketing verantwortlich sind.
Diese Teams haben die Freiheit, Entscheidungen zu treffen und Projekte eigenständig zu leiten, was zu höherer Motivation und besseren Ergebnissen führt
Datengetriebene Entscheidungen
Netflix nutzt Daten und Technologie intensiv, um Entscheidungen zu treffen und das Unternehmenswachstum voranzutreiben. Daten werden verwendet, um Kundenpräferenzen zu verstehen und die Entwicklung von Inhalten und Produkten zu steuern.
Das führt natürlich auch bei vielen Nutzern zu Kritik, da oft Serien auf einmal beendet werden, dies mitten in der Staffel. Kritiker sagen dazu, dass es bei Netflix nicht um Kunst geht, sondern nur um Nutzer und Abozahlen. Tatsache bleibt natürlich, dass dieser datenbezogene Ansatz sehr erfolgreich das Unternehmen aufbauen hat lassen.
Zusammenfassung
Wenn Unternehmen eine gewisse Größe erreichen, dann werden sie oft langsam, bürokratisch und politisch. Sie treffen keine guten Entscheidungen mehr, Kommunikationskanäle werden abgeschnitten und jegliche Innovation wird im Keim erstickt. Ein gutes Beispiel dafür ist aktuell sicher Google. Sie waren die Erfinder der Transformertechnologie im Jahr 2017 (Grundlage für ChatGPT), trotzdem waren sie bei der Umsetzung zu langsam und haben die Entwicklung verschlafen.
Bei Netflix hingegen haben wir etwas ganz anderes gesehen: eine Kultur mit unglaublich vielen Freiheiten, die jedoch auch sehr fordernd und anstrengend ist. Denn man kann sich nicht mehr hinter Regeln und Prozessen verstecken, sondern muss das tun, was sich viele Menschen scheuen – Verantwortung übernehmen.
Genau das haben wir bei Netflix erlebt. Wir konnten dies richtig fühlen und erspüren. Es ist fordernd dort, aber unglaublich aufregend, weil man in dieser Organisation auch einen Unterschied machen kann.
Autor: Werner Sattlegger, Founder Art of Life
Veranstaltungstip: Nächste Lernreise ins Silion Valley, 14-18.Oktober, 2024
Literatur:
Werner Sattlegger: “Die Kunst reifer Führung”, 2022
Ben Horowitz: “What you do is who you are”, 2019
Links:
Experte für digitale Entwicklungsprozesse, wo er europäische mittelständische Familien- und Industrie-unternehmen von der Komfort- in die Lernzone bringt. Leidenschaftlich gerne verbindet er Menschen und Unternehmen, liebt die Unsicherheit und das Unbekannte, vor allem bewegt ihn die Lust am Gestalten und an Entwicklung.