Wu Wei - Führung in Zeiten der Unsicherheit
Nach einigen Monaten im Krisenmodus können schon die ersten Zwischenbilanzen gezogen werden. Zum Beispiel verändert sich Globalisierung in Regionalisierung, die Digitalisierung bekommt einen Turbo, starre Organisationen werden beweglich, vor allem: Pseudoführung verwandelt sich in echte Führung.
Nicht mehr hierarchisch, nach Konzepten oder Plänen, nicht in Form von Macht, Manipulationen oder Schönwetterleadership. Sondern in der Förderung von Eigenverantwortung, Ergebnisorientierung und Autonomie der MitarbeiterInnen.
Eine der wichtigsten Eigenschaften dabei ist Präsenz, gerade in Veränderungen öfter aus dem Weg dem Weg zu gehen, zu vertrauen und auch manchmal Dinge geschehen lassen - Wu Wei.
Polarität und Dualität des Lebens
Nach taoistischer Auffassung besteht das Universum als eine Gesamtheit von Strukturen oder Vernetzungen, die in der Zusammenschau miteinander in Beziehung stehen. Ziel des Lebens ist es im Gleichgewicht zu sein, was nur gelingen kann, wenn wir im Einklang mit den kosmischen Kräfte und Gesetzmäßigkeiten leben, eines davon bedeutet Polarität oder Dualität.
Unser gesamtes Leben ist davon geprägt, die wir zum Beispiel an der Existenz von Mann und Frau, Logik und Intuition, Gedanken und Gefühle, Geist und Körper oder Tätigkeit und Ruhe erkennen. Aber auch in unserer gesamten Natur kann man diese Polaritäten beobachten, wie zum Beispiel im Wechselspiel von Dunkelheit und Licht, Norden und Süden, Subjekt und Objekt, Innen und Außen, Ebbe und Flut, Tag und Nacht, Wachstum und Verhängnis.
Der eine Pol verwandelt oder bedingt oder ergänzt den anderen, der eine Pol ist nicht besser als der andere. In unserer westlichen Kultur wollen wir uns aber oft nur auf einen Pol konzentrieren, wie zum Beispiel auf den Erfolg, wirtschaftliches Wachstum, persönlichen Erfolg oder Glück.
Viele Coaches oder Internetgurus versprechen für viel Geld die Geheimnisse des Lebens in Kurzworkshops zu entschlüsseln – Mikroheilung an einem Wochenende. Wer sich aber ernsthaft mit persönlicher Entwicklung auseinandersetzt hat erfahren, dass es keine „short cuts“ gibt, denn Wachstum braucht vor allem eines: Zeit!
In Wirtschaft und Gesellschaft sind wir aber nicht gewohnt, den Dingen seinen Lauf zu lassen, wollen uns in alles einmischen, beschleunigen und können nicht mehr geduldig auf den richtigen Zeitpunkt warten. In einem Überaktionismus wird dann in Krisenzeiten das Feuer gelöscht, es werden Symptome bekämpft, ohne auf die dahinterliegenden Ursachen zu schauen.
In der asiatischen Philosophie kann man diese Phänomen in den Werken des “Tao Te King” und des “ Buchs der Wandlung - I Ging „nachlesen, wovon ich einen ganz wichtigen Grundsatz herausnehmen möchte und in den Kontext der aktuellen Führung bringe: Wu Wei!
„Wu Wei“ – im Nichttun bleibt nichts ungetan
Das Wort „Wei“ bedeutet eine nicht-natürliche, mit Anstrengung versehene Handlung, die nicht im Fluss des Leben verläuft. Gemeint ist damit, Handlungen zu unterlassen, die gegen die Natur bzw. gegen den natürlichen Fluss der Dinge gerichtet sind.
Im Daodejing heißt es beispielsweise: „Niemals machen und doch bleibt nichts ungetan.“ Oder im I Ging: „Ohne Absicht bleibt doch nichts ungefördert; denn man ist nie im Zweifel, was man zu tun hat.“ Wu Wei ist damit eine Art taoistischer Handlungsmaxime, nur jene Handlungen sind im Einklang mit dem Dao (oder der Natur), die spontan und absichtslos entstehen.
Wu-Wei meint damit in der Praxis, dass das Handeln intuitiv und spontan erfolgen kann, den Gegebenheiten angepasst, den richtigen Moment abwartend und angemessene Mittel zum Einsatz bringt. Es kann auch bedeuten, dass man gewisse Dinge nicht jetzt tun muss, dass jetzt vielleicht etwas anderes dran ist. Manchmal sind Nicht-Handeln und auf den richtigen Zeitpunkt Warten genau das Richtige. Wu Wei meint also das Erkennen von Möglichkeiten im richtigen Zeitpunkt, aus dem Tun lernen und sich ständig weiterzuentwickeln.
Wenn Führungskräfte sich adaptionsfähig den sich verändernden Rahmenbedingungen anpassen, manchmal fix fertige Pläne über Bord werfen, kommen sie vom effizienten zum effektiven Handeln. Sie tun nicht nur die Dinge richtig, sondern auch die richtigen Dinge, das was nun dran ist und nicht das ist was ich mit Anstrengung unbedingt durchboxen will.
Was „Wu Wei“ nicht ist und welche Voraussetzungen notwendig sind
Wu Wei wird sehr oft verwechselt mit einer Form der Passivität oder der Lethargie. Oder man denkt daran, dass einem vielleicht alles egal sei und man sich nicht anstrengen müsse, weil man für sein Leben, für seine Handlungen keine Verantwortung übernimmt.
Gerade in unserer westlichen Kultur sind wir gewohnt „verkopft“ zu sein, wir planen, analysieren, vergleichen, bewerten und interpretieren. Das alles steht aber dem Wu Wei im Weg, denn in diesem Zustand sind Intuition, Wachheit und Offenheit der Sinne gefragt.
Am besten beschreibt man diesen Zustand mit „Präsenz“, man ist spruchwörtlich im Hier und Jetzt, man muss nicht dauernd viel reden oder sich wichtig tun, sondern ist einfach da.
In einem Zustand aktiver Wachheit, im Vertrauen kann geschehen lassen, muss nicht dauernd den natürlichen Dingen des Lebens im Weg stehen. Man den eigenen Impulsen und Stimmungen, schärft die Sinne und vertraut dem Wandel, der geschieht.
In der täglichen Praxis von Führungskräften sind dafür folgende Schritte sehr hilfreich:
1. Loslassen
Gerade in Zeiten des „Black Swans“, wo von einem Tag auf den anderen alles anders sein kann, Geschäftsgrundlagen wegbrechen oder Kundenverhalten sich ändern, gilt es sich von alten Gewohnheiten oder Geschäftsmodellen zu verabschieden. Zu entscheiden was wir in Zukunft nicht mehr tun wollen, was es gilt loszulassen, sei es eine konkrete Produktlinie oder Dienstleistung. Das tut oft weh und schmerzt, aber in einer Welt des Wandels und Veränderung unabdingbar.
2. Vertrauen
In unserer westlichen Kultur wollen wir immer alles unter Kontrolle haben oder uns absichern. Gerade der Coronavirus haltet uns vor Augen, dass dies nicht möglich ist. Das Leben ist unsicher und ungewiss, wir können durch Methoden oder Konzepte nicht Ungewissheit in Gewissheit verwandeln. Wer die Unsicherheit nicht will, der will das Leben nicht, denn das Leben ist unsicher! Führungskräfte müssen gerade in diesen Zeiten trotz Ungewissheit Vertrauen und manchmal den Dingen ihren Lauf lassen.
3. Präsenz
Führungskräfte müssen heute mehr denn je in einem persönlichen Zustand der Wachheit sein, im Hier und Jetzt verweilen und wahrnehmen was gerade geschieht. Gerade in Zeiten der Corona Krise erlebe ich viele Führungskräfte so tun als ob nichts wäre, in kognitiver Dissonanz Realitätsverweigerung leben und nicht auf den Strukturwandel reagieren. Lieber bleiben viele in alten Mustern hängen, kündigen an, reden viel ohne etwas zu sagen, müssen sich wichtig machen und ihren Status untermauern.
4. Aufgabe von Widerstand
Überall dort wo im Leben Veränderung stattfindet, wendet der Mensch Energie für Widerstand auf. Man ist gegen etwas, will mit großer Anstrengung verändern oder ankämpfen, verbraucht damit viel Energie und ist am Ende trotzdem nicht erfolgreich. Im Zustand des „Wu Wei“ ist man nicht mehr im Kampfmodus, sondern gibt sich den nicht veränderbaren Zuständen hin und passt sich den Gegebenheiten an.
5. Rhythmus
Gerade von der Natur kann man lernen, dass alles seinem eigenen ganz natürlichem Rhythmus folgt und es für alles einen richtigen Zeitpunkt gibt. Genauso wie jeder Mensch seinen eigenen Rhythmus und Geschwindigkeit hat, jeder Mensch dort in seiner Entwicklung steht, wo er gerade steht, so ist es auch bei Organisationen und Unternehmen. Auch dort gibt es keine short cuts, man kann nicht einfach eine Entwicklungsstufe auslassen, man kann nicht von einer Stufe der starren Unternehmenskultur sofort in einer agile Struktur ändern. Wachstum und Entwicklung brauchen auch hier Zeit und Geduld.
Mir persönlich hilft in den Zeiten der disruptiven Veränderung oder Krise immer der Gang in die Natur, dort wo Wandel Programm ist und wo es nur eine Konstante gibt: Veränderung. Nach dem Winter folgt der Frühling, Sonnenschein folgt der Dunkelheit oder Ernte der Saat.
Führungskräfte würden sich in vielen Bereichen leichter tun, wenn sie sich den Gesetzmäßigkeiten des Lebens mehr anpassen würden, in den Zustand des Wu Wei kommen. Das Ergebnis wäre eine höhere Gelassenheit, Wirksamkeit und effektiveren Einsatz ihrer Kräfte.
Die MitarbeiterInnen würden mehr Eigenverantwortung und Autonomie erhalten, ganz im Sinne von Agilität. Das Ergebnis könnte dann Freude am Tun und der Potentialentfaltung sein, das was man in Asien vor tausenden Jahren schon wusste – Wu Wei.
Literaturtipps
I Ging - Das Buch der Wandlung
Autor: Werner Sattlegger (Founder & CEO Art of Life)
Experte für digitale Entwicklungsprozesse, wo er europäische mittelständische Familien- und Industrie-unternehmen von der Komfort- in die Lernzone bringt. Leidenschaftlich gerne verbindet er Menschen und Unternehmen, liebt die Unsicherheit und das Unbekannte, vor allem bewegt ihn die Lust am Gestalten und an Entwicklung.